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Ästhetik
der Geometrie
Immer schnellere Rechner, immer größere Speicher und immer
intelligentere Algorithmen machen es möglich, dass bewegte Bilder
in unserem multimedialen Alltag eine zunehmend wichtige Rolle spielen.
Virtuelle Welten für die Medizin, für die Mode und fürs
Lernen entwickeln die Informatiker vom Wilhelm-Schickard-Institut in Tübingen.
Schaut
man Professor Wolfgang Straßers Leuten über die Schultern und auf die
Bildschirme, ist Spaß an der Arbeit, an der eigenen Kreativität zu
spüren. Denn hier, im Forschungsbereich Graphisch-Interaktive Systeme im
Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik an der Uni Tübingen (www.gris.uni-tuebingen.de)
entstehen ganz neue Welten. Eine virtuelle Modenschau. Ein gestricktes
Zopfmuster aus fusseliger Wolle. Eine Reise durch die Hirnarterien eines
Neurologiepatienten. Ein Flug mit Lichtgeschwindigkeit durchs
Brandenburger Tor. Und zur Erholung auch einmal ein Schloss aus dem 13.
Jahrhundert, das Castel del Monte des Staufers Friedrich des II.
Die Grafik muss ansprechend
und punktgenau sein
Dabei werden Probleme immer auf mehreren Ebenen gelöst: An der Bildschirmoberfläche
muss eine Grafikanwendung schön aussehen und leicht zu bedienen sein;
idealerweise basiert sie auf HTML oder lässt sich in eine Office-Anwendung
wie Word oder Powerpoint integrieren. Für die realitätsgetreue
Abbildung eines physikalisch-technischen Vorgangs wie des Faltenwurfs
eines Tuchs müssen physikalische Kennwerte bestimmt, funktionsbestimmende
Differentialgleichungen gefunden, numerische Probleme gelöst und
geometrischen Beziehungen berücksichtigt werden.
Eine Ebene tiefer müssen Datenbanken und Grafikprogramme so gestaltet
sein, dass sie riesige Datenmengen bewältigen, das heißt immer
wieder reduzieren, filtern, komprimieren. Nur so geht zum Beispiel die
Reise durchs Gehirn rasch und fließend vonstatten, und eine Operation
kann in Echtzeit simuliert werden.
Auf der untersten Ebene, wo die Informationen in geometrischen Grundformen
- Dreiecke für Flächen, Tetraeder für Volumina - codiert
sind, agieren die Hardwarespezialisten. Straßer: "Wir haben
den weltschnellsten Reduzierer für Dreiecks- und Tetraedernetze entwickelt."
Wie kommt eine solche Bandbreite zustande? Wie findet Straßer seine
Partner aus Wissenschaft und Industrie? "Manche entdecken uns im
Internet. Andere sprechen mich auf Konferenzen an, manche rufen einfach
an, wenn sie ein Grafikproblem haben. Und wenn wir dann Lust haben auf
das Problem und der Partner Geld besitzt, dann machen wir ein Projekt
daraus." Nur fünf der Doktorandenstellen zahlt das Land, 15
kommen aus Drittmitteln. Namen wie IBM, Hewlett-Packard und Philips sind
darunter.
Solche Praxisnähe kann dazu führen, dass Männer stricken
lernen. Bernhard Eberhardt und Michael Meißner ließen sich
bei der Textilfabrik Stoll in Reutlingen in die Geheimnisse einer Flachstrickmaschine
einweihen, bevor sie für ihre Doktorarbeit deren Daten auf ihre Rechner
luden. Anschließend bauten sie eine Datenstruktur auf, die die physikalischen
Eigenschaften des Gestrickten so genau wie möglich repräsentiert.
"Wir zeichnen zum Beispiel einen Ärmel auf", erklärt
Eberhardt. "Den zerlegen wir in Rasterpunkte, die untereinander wie
mit Federn verbunden sind." Diese Federn haben komplexe Eigenschaften,
die durch Differentialgleichungen beschrieben werden können. "Damit
erfassen wir die Dehnungseigenschaften des Gewebes - in waagerechter Richtung,
senkrecht und diagonal."
So hat Eberhardt allein aus Daten und Formeln Kurzfilme mit schlichter
Handlung entwickelt: "Ein gestricktes Tuch fällt über einen
Ball" oder "ein gewebtes Tuch fällt über einen Ball".
Der Clou ist, dass die virtuellen Filme realen Videoaufnahmen zum Verwechseln
ähnlich sehen - bis hin zum unterschiedlichen Faltenwurf, den die
beiden Tücher am Ende zeigen.
Avatar wird im Web-Shop
zum Schneider-Model
Das Fernziel: Designer sollen künftig ihre Entwürfe an einer
virtuellen Schneiderpuppe oder sogar an einem sich bewegenden menschenähnlichen
Modell testen können, bevor auch nur eine einzige Masche gestrickt
ist. Professor Straßer denkt aber noch weiter, etwa an die Käuferin,
die das Modell in einem Internet-Shop entdeckt: "Sie kann das Kleid
an einem virtuellen Modell ausprobieren, das ihre Körpermaße
und ihr Gesicht hat", prophezeit er. "Dann weiß sie, ob
es an ihr genauso gut aussieht wie an Claudia Schiffer." Seine früheren
Diplomanden Martin Breidt und Jörg Rusnak haben mit ihrem Video "Virtuelle
Modenschau" bereits attraktive Vorarbeit geleistet.
Michael Meißner hat sich noch weiter in die Wolle verstrickt. Er
behandelt die Gestricke nicht mehr nur als Oberflächen, sondern hat
es geschafft, einzelne Fäden als virtuelle Körper zu repräsentieren.
Die virtuellen Garne, die er daraus dreht, und die Maschen, die er damit
im Computer strickt, sehen täuschend echt aus - bis hin zum fusseligen
Eindruck eines Mohairpullovers. Was er beim virtuellen Stricken lernt,
zum Beispiel über Durchdringung und Überlagerung, Berührung
und Verformung von Textilien, kann er anschließend auf menschliche
Organe anwenden, die für einen Computergrafiker genauso als "deformierbare
Materialien" gelten wie Stoff. Davon profitieren könnte sein
Laborkollege Dirk Bartz. Der Informatiker hat zusammen mit Ärzten
aus den Tübinger Unikliniken Methoden der virtuellen Endoskopie entwickelt.
Wie im Film "Die fantastische Reise" aus den 60ern kann man
sich an seinem Rechner durch den menschlichen Körper bewegen - etwa
durch den Dickdarm, die Lufträume des Gehirns oder durch Blutgefäße,
die viel zu dünn sind, als dass eine reale Kamera hindurchginge.
Die Daten für die überraschend detailreichen 3D-Visionen stammen
von realen Patienten aus Diagnoseverfahren wie der Röntgencomputer-
oder Magnetresonanz-Tomographie.
Mit ihrer Hilfe können Operationen, zum Beispiel endoskopische Eingriffe
ins Gehirn, vorbereitet, geübt und demnächst vielleicht sogar
in Echtzeit begleitet werden. Bartz: "Wo die Kamera nicht hinkommt,
weil eine Öffnung zu schmal ist oder ein Gewebe nicht durchstoßen
werden darf, können wir bei unserem virtuellen Patienten noch hinschauen."
Bisher stößt seine Software an ihre Grenzen, wenn er etwa ein
Blutgefäß, das sich unter einer Zyste entlang zieht, durch
die halb transparente Zystenwand hindurch sichtbar machen will. Mit Raycasting-Verfahren,
die auch Meißner bei seinen Textilien entwickelt, könnte sich
das ändern. Das Prinzip: Man denke sich einen Betrachter, der mit
Röntgenblick einen Körper abtastet und bis in die Organe blickt.
Die Daten, die der Sehstrahl dabei aufnimmt - wie Haut, Muskel, Bauchhöhle,
Darm oder Knochen - werden gespeichert. Das Ganze wird aus einer anderen
Perspektive wiederholt, bis ein Gesamtbild des Innen und des Außen
entsteht.
Neben Bartz hat Mechtild Uesbeck ihren Arbeitsplatz. Die Informatikerin
entwickelt zusammen mit Medizinern aus Tübingen und Heidelberg, aber
auch mit Pädagogen und Medienwissenschaftlern, ein multimediales
Ausbildungssystem für die medizinische Lehre, das die nette Abkürzung
Murmel trägt und bereits in Teilen im Web zu sehen ist (http://www.murmel.uni-tuebingen.
de). Das Projekt wird vom Land Baden-Württemberg und von der Telekom
finanziert. Nicht nur Medizinstudenten sollen hier auf anregende Weise
Fachbegriffe und Methoden büffeln, auch bei der Fort- und Weiterbildung
von Fachärzten soll es eingesetzt werden und zum Beispiel Reisekosten
sparen. Der Markt ist vorhanden, so Uesbeck: "In den USA sind solche
Online-Seminare bereits sehr beliebt."
JUDITH RAUCH
Ein Framework fasst die Datentypen
zusammen
Wie sieht die Dichteverteilung eines Sternennebels aus? Wie verläuft
eine Luftströmung um eine Autokarosserie? Und wie krümmt sich
für einen Betrachter das Brandenburger Tor, wenn er mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit
darauf zurast? Auf solche nicht ganz alltägliche Visualisierungsprobleme
weiß Stefan Gumhold vom Forschungsbereich Graphisch-Interaktive
Systeme im Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik in Tübingen
Antworten. Er fasst die verschiedensten Datentypen, die ihm die Anwender
liefern, in ein einheitliches Framework zusammen und benutzt dazu objektorientierte
Konzepte. Gumhold hat eine in C++ programmierte Klassenbibliothek mit
nahezu 800 Klassen für die Datentypen aufgebaut. Für die Visualisierung
sind vor allem Darstellungsverfahren wichtig, das Rendering: So werden
etwa die Dichteunterschiede stellarer Nebel auf dem Bildschirm in Farben
umgesetzt.
Für die Speicherung der enormen Datenmengen und für den Transport
über langsame Netzverbindungen wie das Internet braucht man zusätzlich
Algorithmen zur Kompression von Dreiecks- und Tetraedernetzen. Um die
Daten effektiv verwalten und auf die verschiedensten Arten analysieren
zu können, ist ein übergreifendes Visualisierungssystem notwendig.
Dazu sind die mathematischen Funktionalitäten in einem abstrakten
übergeordneten Basisdatentyp in den objektorientierten Rahmen eingebunden.
(jr)
Das erste Start-Up
hat schon eine US-Tochter
"Tübingen ist nicht Silicon Valley", konstatiert Professor
Wolfgang Straßer trocken. "Im Grunde sitzen wir hier in der
Provinz. Dass wir trotzdem international mitmischen, ist ein schöner
Erfolg." Er leitet seit 1986 den Lehr- und Forschungsbereich Graphisch-Interaktive
Systeme im Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik in Tübingen.
Unter den rund 40 Grafikprofessuren in der Bundesrepublik stechen die
Tübinger laut Bild der Wissenschaft durch Publikationsfleiß
hervor, bei den internationalen Kooperationen belegen sie den ersten Platz.
Die 20 Doktorandinnen und Doktoranden - Informatiker, Physiker, Mathematiker,
Biologen, Geologen und Mediziner - arbeiten aber nicht nur in dem Institut,
um wissenschaftliche Lorbeeren zu ernten. Sie können sich auch ihren
künftigen Arbeitgeber aussuchen - oder gleich das eigene Start-up
gründen. Keine Vision: Vergangenen August haben Absolventen das Unternehmen
Egisys gegründet, das bewegte 3D-Grafiken von Menschen und Gegenständen
vermarktet - beispielsweise virtuelle Verkäufer. In einem geschickten
Schachzug hat Egisys-Chef Wolfgang Eichner alle Rechte an dem 3D-Grafikprogramm
Poser beim Ausverkauf der US-Company Meta Creations gekauft - und auch
die Kreativen übernommen: Poser-Entwickler Larry Weinberg wird als
neuer Egisys-Vorstand die Anfang Mai gegründete Tochter Curious Labs
in Santa Cruz leiten. (jr)
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