Judith Rauch schreibt: ComputerZeitung 2. Juni 2000

Ästhetik der Geometrie

Immer schnellere Rechner, immer größere Speicher und immer intelligentere Algorithmen machen es möglich, dass bewegte Bilder in unserem multimedialen Alltag eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Virtuelle Welten für die Medizin, für die Mode und fürs Lernen entwickeln die Informatiker vom Wilhelm-Schickard-Institut in Tübingen.

Schaut man Professor Wolfgang Straßers Leuten über die Schultern und auf die Bildschirme, ist Spaß an der Arbeit, an der eigenen Kreativität zu spüren. Denn hier, im Forschungsbereich Graphisch-Interaktive Systeme im Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik an der Uni Tübingen (www.gris.uni-tuebingen.de) entstehen ganz neue Welten. Eine virtuelle Modenschau. Ein gestricktes Zopfmuster aus fusseliger Wolle. Eine Reise durch die Hirnarterien eines Neurologiepatienten. Ein Flug mit Lichtgeschwindigkeit durchs Brandenburger Tor. Und zur Erholung auch einmal ein Schloss aus dem 13. Jahrhundert, das Castel del Monte des Staufers Friedrich des II.

Die Grafik muss ansprechend und punktgenau sein

Dabei werden Probleme immer auf mehreren Ebenen gelöst: An der Bildschirmoberfläche muss eine Grafikanwendung schön aussehen und leicht zu bedienen sein; idealerweise basiert sie auf HTML oder lässt sich in eine Office-Anwendung wie Word oder Powerpoint integrieren. Für die realitätsgetreue Abbildung eines physikalisch-technischen Vorgangs wie des Faltenwurfs eines Tuchs müssen physikalische Kennwerte bestimmt, funktionsbestimmende Differentialgleichungen gefunden, numerische Probleme gelöst und geometrischen Beziehungen berücksichtigt werden.

Eine Ebene tiefer müssen Datenbanken und Grafikprogramme so gestaltet sein, dass sie riesige Datenmengen bewältigen, das heißt immer wieder reduzieren, filtern, komprimieren. Nur so geht zum Beispiel die Reise durchs Gehirn rasch und fließend vonstatten, und eine Operation kann in Echtzeit simuliert werden.

Auf der untersten Ebene, wo die Informationen in geometrischen Grundformen - Dreiecke für Flächen, Tetraeder für Volumina - codiert sind, agieren die Hardwarespezialisten. Straßer: "Wir haben den weltschnellsten Reduzierer für Dreiecks- und Tetraedernetze entwickelt."

Wie kommt eine solche Bandbreite zustande? Wie findet Straßer seine Partner aus Wissenschaft und Industrie? "Manche entdecken uns im Internet. Andere sprechen mich auf Konferenzen an, manche rufen einfach an, wenn sie ein Grafikproblem haben. Und wenn wir dann Lust haben auf das Problem und der Partner Geld besitzt, dann machen wir ein Projekt daraus." Nur fünf der Doktorandenstellen zahlt das Land, 15 kommen aus Drittmitteln. Namen wie IBM, Hewlett-Packard und Philips sind darunter.

Solche Praxisnähe kann dazu führen, dass Männer stricken lernen. Bernhard Eberhardt und Michael Meißner ließen sich bei der Textilfabrik Stoll in Reutlingen in die Geheimnisse einer Flachstrickmaschine einweihen, bevor sie für ihre Doktorarbeit deren Daten auf ihre Rechner luden. Anschließend bauten sie eine Datenstruktur auf, die die physikalischen Eigenschaften des Gestrickten so genau wie möglich repräsentiert.

"Wir zeichnen zum Beispiel einen Ärmel auf", erklärt Eberhardt. "Den zerlegen wir in Rasterpunkte, die untereinander wie mit Federn verbunden sind." Diese Federn haben komplexe Eigenschaften, die durch Differentialgleichungen beschrieben werden können. "Damit erfassen wir die Dehnungseigenschaften des Gewebes - in waagerechter Richtung, senkrecht und diagonal."

So hat Eberhardt allein aus Daten und Formeln Kurzfilme mit schlichter Handlung entwickelt: "Ein gestricktes Tuch fällt über einen Ball" oder "ein gewebtes Tuch fällt über einen Ball". Der Clou ist, dass die virtuellen Filme realen Videoaufnahmen zum Verwechseln ähnlich sehen - bis hin zum unterschiedlichen Faltenwurf, den die beiden Tücher am Ende zeigen.


Avatar wird im Web-Shop zum Schneider-Model

Das Fernziel: Designer sollen künftig ihre Entwürfe an einer virtuellen Schneiderpuppe oder sogar an einem sich bewegenden menschenähnlichen Modell testen können, bevor auch nur eine einzige Masche gestrickt ist. Professor Straßer denkt aber noch weiter, etwa an die Käuferin, die das Modell in einem Internet-Shop entdeckt: "Sie kann das Kleid an einem virtuellen Modell ausprobieren, das ihre Körpermaße und ihr Gesicht hat", prophezeit er. "Dann weiß sie, ob es an ihr genauso gut aussieht wie an Claudia Schiffer." Seine früheren Diplomanden Martin Breidt und Jörg Rusnak haben mit ihrem Video "Virtuelle Modenschau" bereits attraktive Vorarbeit geleistet.

Michael Meißner hat sich noch weiter in die Wolle verstrickt. Er behandelt die Gestricke nicht mehr nur als Oberflächen, sondern hat es geschafft, einzelne Fäden als virtuelle Körper zu repräsentieren. Die virtuellen Garne, die er daraus dreht, und die Maschen, die er damit im Computer strickt, sehen täuschend echt aus - bis hin zum fusseligen Eindruck eines Mohairpullovers. Was er beim virtuellen Stricken lernt, zum Beispiel über Durchdringung und Überlagerung, Berührung und Verformung von Textilien, kann er anschließend auf menschliche Organe anwenden, die für einen Computergrafiker genauso als "deformierbare Materialien" gelten wie Stoff. Davon profitieren könnte sein Laborkollege Dirk Bartz. Der Informatiker hat zusammen mit Ärzten aus den Tübinger Unikliniken Methoden der virtuellen Endoskopie entwickelt. Wie im Film "Die fantastische Reise" aus den 60ern kann man sich an seinem Rechner durch den menschlichen Körper bewegen - etwa durch den Dickdarm, die Lufträume des Gehirns oder durch Blutgefäße, die viel zu dünn sind, als dass eine reale Kamera hindurchginge. Die Daten für die überraschend detailreichen 3D-Visionen stammen von realen Patienten aus Diagnoseverfahren wie der Röntgencomputer- oder Magnetresonanz-Tomographie.

Mit ihrer Hilfe können Operationen, zum Beispiel endoskopische Eingriffe ins Gehirn, vorbereitet, geübt und demnächst vielleicht sogar in Echtzeit begleitet werden. Bartz: "Wo die Kamera nicht hinkommt, weil eine Öffnung zu schmal ist oder ein Gewebe nicht durchstoßen werden darf, können wir bei unserem virtuellen Patienten noch hinschauen."

Bisher stößt seine Software an ihre Grenzen, wenn er etwa ein Blutgefäß, das sich unter einer Zyste entlang zieht, durch die halb transparente Zystenwand hindurch sichtbar machen will. Mit Raycasting-Verfahren, die auch Meißner bei seinen Textilien entwickelt, könnte sich das ändern. Das Prinzip: Man denke sich einen Betrachter, der mit Röntgenblick einen Körper abtastet und bis in die Organe blickt. Die Daten, die der Sehstrahl dabei aufnimmt - wie Haut, Muskel, Bauchhöhle, Darm oder Knochen - werden gespeichert. Das Ganze wird aus einer anderen Perspektive wiederholt, bis ein Gesamtbild des Innen und des Außen entsteht.

Neben Bartz hat Mechtild Uesbeck ihren Arbeitsplatz. Die Informatikerin entwickelt zusammen mit Medizinern aus Tübingen und Heidelberg, aber auch mit Pädagogen und Medienwissenschaftlern, ein multimediales Ausbildungssystem für die medizinische Lehre, das die nette Abkürzung Murmel trägt und bereits in Teilen im Web zu sehen ist (http://www.murmel.uni-tuebingen. de). Das Projekt wird vom Land Baden-Württemberg und von der Telekom finanziert. Nicht nur Medizinstudenten sollen hier auf anregende Weise Fachbegriffe und Methoden büffeln, auch bei der Fort- und Weiterbildung von Fachärzten soll es eingesetzt werden und zum Beispiel Reisekosten sparen. Der Markt ist vorhanden, so Uesbeck: "In den USA sind solche Online-Seminare bereits sehr beliebt."

JUDITH RAUCH


Ein Framework fasst die Datentypen zusammen

Wie sieht die Dichteverteilung eines Sternennebels aus? Wie verläuft eine Luftströmung um eine Autokarosserie? Und wie krümmt sich für einen Betrachter das Brandenburger Tor, wenn er mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit darauf zurast? Auf solche nicht ganz alltägliche Visualisierungsprobleme weiß Stefan Gumhold vom Forschungsbereich Graphisch-Interaktive Systeme im Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik in Tübingen Antworten. Er fasst die verschiedensten Datentypen, die ihm die Anwender liefern, in ein einheitliches Framework zusammen und benutzt dazu objektorientierte Konzepte. Gumhold hat eine in C++ programmierte Klassenbibliothek mit nahezu 800 Klassen für die Datentypen aufgebaut. Für die Visualisierung sind vor allem Darstellungsverfahren wichtig, das Rendering: So werden etwa die Dichteunterschiede stellarer Nebel auf dem Bildschirm in Farben umgesetzt.

Für die Speicherung der enormen Datenmengen und für den Transport über langsame Netzverbindungen wie das Internet braucht man zusätzlich Algorithmen zur Kompression von Dreiecks- und Tetraedernetzen. Um die Daten effektiv verwalten und auf die verschiedensten Arten analysieren zu können, ist ein übergreifendes Visualisierungssystem notwendig. Dazu sind die mathematischen Funktionalitäten in einem abstrakten übergeordneten Basisdatentyp in den objektorientierten Rahmen eingebunden. (jr)


Das erste Start-Up hat schon eine US-Tochter

"Tübingen ist nicht Silicon Valley", konstatiert Professor Wolfgang Straßer trocken. "Im Grunde sitzen wir hier in der Provinz. Dass wir trotzdem international mitmischen, ist ein schöner Erfolg." Er leitet seit 1986 den Lehr- und Forschungsbereich Graphisch-Interaktive Systeme im Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik in Tübingen. Unter den rund 40 Grafikprofessuren in der Bundesrepublik stechen die Tübinger laut Bild der Wissenschaft durch Publikationsfleiß hervor, bei den internationalen Kooperationen belegen sie den ersten Platz.

Die 20 Doktorandinnen und Doktoranden - Informatiker, Physiker, Mathematiker, Biologen, Geologen und Mediziner - arbeiten aber nicht nur in dem Institut, um wissenschaftliche Lorbeeren zu ernten. Sie können sich auch ihren künftigen Arbeitgeber aussuchen - oder gleich das eigene Start-up gründen. Keine Vision: Vergangenen August haben Absolventen das Unternehmen Egisys gegründet, das bewegte 3D-Grafiken von Menschen und Gegenständen vermarktet - beispielsweise virtuelle Verkäufer. In einem geschickten Schachzug hat Egisys-Chef Wolfgang Eichner alle Rechte an dem 3D-Grafikprogramm Poser beim Ausverkauf der US-Company Meta Creations gekauft - und auch die Kreativen übernommen: Poser-Entwickler Larry Weinberg wird als neuer Egisys-Vorstand die Anfang Mai gegründete Tochter Curious Labs in Santa Cruz leiten. (jr)

Home | Kontakt | Datenschutzerklärung | Impressum

Fenster schließen