Judith Rauch schreibt: Psychologie heute, Mai 2003

Neurobiologie:

Dem Gehirn beim Denken zusehen

Wie lässt sich Lernerfolg steigern? Wie entstehen psychische Krankheiten? Und warum "funkt" es beim Blickkontakt zwischen Mann und Frau? Neue bildgebende Verfahren erlauben Neurowissenschaftlern, dem Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen, und eröffnen ungewöhnliche Einsichten in unser Denken und Erleben. - Ein Gespräch mit dem Bonner Neurologen Christian Elger.

Psychologie heute: Herr Professor Elger, Sie haben zusammen mit sieben Forscherkollegen aus Deutschland die Initiative "Jahrzehnt des menschlichen Gehirns" ins Leben gerufen. Was wollen Sie erreichen? 

Christian Elger: Wir möchten bekannt machen, dass eine gute Zeit für die Hirnforschung angebrochen ist. Wenn Sie Zeitschriften wie Science und Nature analysieren, dann sehen Sie, dass die Hirnforschung – ein schmaler Bereich der Medizin – zur Zeit so häufig vertreten ist wie die gesamte Physik! Wir machen riesengroße Fortschritte, und die Erkenntnisse sind auch attraktiv für die Bevölkerung. Wir haben jetzt nämlich das Handwerkszeug, um das Gehirn im Detail zu untersuchen. Das wichtigste dieser neuen Verfahren ist die funktionelle Kernspintomografie. Damit messen wir Veränderungen der Hirndurchblutung. Wir sehen dann auf dem Bildschirm, dass sich bei einer Bewegung der Hand die Aktivität in einem Teil der Hirnrinde, dem motorischen Kortex, ändert. Oder dass ein Lichtreiz den visuellen Kortex erregt. Wir sehen, wo Sprache verarbeitet wird. Mit dieser Methode macht die Hirnforschung zur Zeit weltweit enorme Fortschritte. Daniel Weinberger von den National Institutes of Health in den USA hat zum Beispiel Patienten untersucht, die an einem bestimmten Typ von Depression leiden, der nur auftritt, wenn ein bestimmtes Gen verändert ist. Und er konnte mithilfe des funktionellen Kernspins eine komplexe Reaktion im Gehirn feststellen, die mit dieser Genveränderung einhergeht. Das ist ein erster Schritt in Richtung Pharmakogenetik! 

PH: Man kann voraussagen, dass bei Patienten mit dieser Hirnreaktion ein ganz bestimmtes Antidepressivum wirken wird und ein anderes nicht

Elger: Ja. Ein anderes Beispiel: Yves von Cramon vom Max-Planck-Institut für Neuropsychologische Forschung in Leipzig untersucht mit der funktionellen Kernspintomografie eine bestimmte Hirnregion: den frontalen Kortex, zu Deutsch: das Stirnhirn. An dieser Stelle verknüpfen wir in unseren Gedanken Außen und Innen und bauen zielgerichtete Handlungen auf. Von Cramon hat seinen Versuchspersonen Satzpaare angeboten, die entweder einen Sinnzusammenhang hatten oder keinen. Also in der Art: "Möchtest du Lasagne? – Der Laden ist um die Ecke" oder "Möchtest du Lasagne? – Das Auto ist grün". Dabei konnte er beobachten, dass das Stirnhirn sinnvolle Satzpaare anders behandelt als sinnlose. Tatsächlich können Menschen, bei denen diese Region zerstört ist, sinnvolle Satzpaare nicht von sinnlosen unterscheiden. 

PH: Sie arbeiten hier in Bonn mit Epilepsiekranken. Warum sind diese Patienten für die Hirnforschung besonders wichtig? 

Elger: Ein Teil der Menschen, die an Epilepsie leiden, können mit Medikamenten nicht erfolgreich behandelt werden. Bei ihnen können wir aber versuchen, den Herd, von dem die Anfälle ausgehen, herauszuoperieren. Und um diesen Herd präzise zu orten, pflanzen wir ins Gehirn der Patienten Elektroden ein. Elektroden, wie sie beim EEG benutzt werden, nur dass sie nicht flächig außen am Kopf sitzen, sondern als dünner Draht tief ins Gehirn hineinführen. Oft sitzen diese Elektroden im Schläfenlappen, weil wir dort den Anfallsherd vermuten. Genauer gesagt: im Hippocampus und im Mandelkern (Amygdala). Der Hippocampus ist sehr wichtig für unser Gedächtnis, der Mandelkern für unsere Emotionen. 

PH: Und diese Funktionen untersuchen Sie dann mithilfe der eingepflanzten Elektroden? 

Elger: Ja. Unsere Hirnforschung ist sozusagen ein Nebenprodukt der Diagnostik. Wir haben durch die Tiefenelektroden unserer Epilepsiepatienten einen hervorragenden Zugang zu Funktionen, die man im Tierversuch gar nicht oder nur sehr schwer untersuchen kann. Etwa das Erlernen und Erinnern von Wörtern. Oder auch Gefühle wie Liebe, Glück oder Unglück. Wenn wir bei einer Epilepsieoperation Gehirngewebe entfernen müssen, eröffnet uns dies die Möglichkeit, die molekularen Grundlagen von Hirnfunktionen zu untersuchen – die Elementarprozesse des Gedächtnisses beispielsweise. Wir können nämlich mit bestimmten Techniken das entnommene Gewebe noch eine Weile weiterleben lassen, rund 20 bis 30 Stunden. In dieser Zeit können wir es unter dem Mikroskop studieren oder mit elektrophysiologischen und chemischen Methoden untersuchen. 

PH: Erfahren Sie dadurch wirklich etwas über die Gedächtnisleistungen eines gesunden Gehirns? Die Strukturen, die Sie herausoperieren, sind doch krankhaft verändert.

Elger: Diese Kritik hören wir öfter, auch von Fachkollegen. Aber ich widerspreche dem: Wir können durchaus unsere Schlüsse aus diesem Material ziehen. Wenn wir zum Beispiel Gewebeproben eines Patienten A haben, bei dem das Gedächtnis noch funktioniert, eines Patienten B, der kein Gedächtnis mehr hat, und vielleicht auch noch eines Patienten C, dessen Leistung dazwischen liegt, dann können wir Gewebeveränderungen den Leistungsverlusten zuordnen. 

PH: Was wissen Sie bereits über die Elementarprozesse des Gedächtnisses? 

Elger: Wir wissen aus Tierversuchen, dass für die assoziative Verknüpfung von Gedächtnisinhalten lang anhaltende Veränderungen an Nervenverbindungen nötig sind, die so genannte Langzeitpotenzierung von Synapsen. Wenn zwei Nervenzellen gemeinsam erregt werden, werden ihre Verbindungen durch einen biochemischen Prozess doppelt so leistungsfähig – die beiden Zellen werden stärker miteinander verkoppelt. Wir haben solche Langzeitpotenzierung erstmals beim Menschen registriert. Und zwar im Hippocampus, einer Struktur im Schläfenlappen, die wir als Eingangsstation ins Langzeitgedächtnis verstehen können. Wir haben Patienten, die Tiefenelektroden im Hippocampus hatten, in einem Experiment Wörter lernen lassen. Und wir sahen Unterschiede in der Erregung, je nachdem, ob sich der Patient nachher an diese Wörter erinnerte oder nicht. Wir konnten beweisen, dass erst eine bestimmte Erregung des Hippocampus zu einem Erinnerungsprozess führt. 

PH: Warum merkt der Patient sich einige Wörter, andere nicht? 

Elger: Das haben wir uns in einem zweiten Schritt gefragt. Wir bauten dabei auf Forschungsbefunden meines Frankfurter Kollegen Wolf Singer auf. Singer beschäftigt sich mit rhythmischen elektrischen Schwingungen von Nervenzellverbänden – die Neuronen eines solchen Verbandes feuern synchron mit einer Frequenz von etwa 40 Hertz. Er hat mit sehr eleganten Experimenten gezeigt, dass solche Schwingungen, bei denen bestimmte Gehirnareale in Gleichtakt kommen, für die Verarbeitung von Seheindrücken entscheidend sind. Wir haben nun geprüft: Ist eine solche Schwingung, und zwar ein Gleichtakt zwischen zwei Regionen, auch etwas Entscheidendes für den Erinnerungsprozess? Und wir konnten tatsächlich nachweisen, dass nur dann, wenn Neuronenverbände in zwei verschiedenen Bereichen des Hippocampus und des benachbarten Riechhirns in Gleichtakt treten, ein Erinnerungsprozess angestoßen wird. Wenn das nicht erreicht wird, wird dieses Wort wieder vergessen! Und nun fragen wir uns: Wie kriegen wir die beiden Nervenzellverbände dazu, immer optimal zu schwingen? Schön wäre es, wenn ich zum Beispiel beim Vokabellernen einen Mechanismus anknipsen könnte, der alle neuen Vokabeln ein für alle Mal ins Langzeitgedächtnis überführt – ohne dass ich mir die Wörter erst mühevoll zwanzigmal aufsagen und einprägen muss. 

PH: Rechnen Sie also mit neuen Gedächtnistrainingsmethoden, die aus Ihren Forschungen abgeleitet werden können? 

Elger: Ganz sicher! Wenn wir mehr Mittel, Zeit und Personal hätten, dann könnten wir diese Untersuchungen viel differenzierter durchführen. Wir könnten zum Beispiel Lerninhalte mit emotionalen Reizen verknüpfen. Wir könnten versuchen, die Gedächtnisregion mit ganz bestimmten Geruchsreizen zu aktivieren. 

PH: Weil das Riechhirn am Gedächtnis beteiligt ist? 

Elger: Das Riechhirn ist ganz eng mit diesen Strukturen verknüpft. Jeder weiß das: Wenn eine Frau mit einem guten Parfüm an mir vorbeiläuft, behalte ich sie anders in Erinnerung, als wenn sie nach gar nichts riecht! 

PH: Sie haben eine interessante Entdeckung gemacht, den "Casablancaeffekt". Was hat es damit auf sich? 

Elger: Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Thomas Grunwald präsentierte Patienten, die Tiefenelektroden im Mandelkern stecken hatten, Männer- und Frauengesichter. Manche der abgebildeten Gesichter schienen Blickkontakt mit dem Betrachter aufzunehmen, die anderen blickten an ihm vorbei. Zu unserer Überraschung zeigte sich ein deutlicher Effekt: Sieht ein Mann das Gesicht einer Frau, die ihn anblickt, dann wird sein Mandelkern viel stärker erregt, als wenn sie ihn nicht anblickt. Bei einem Männergesicht ist es dagegen völlig egal, ob es ihn anguckt oder nicht. Und umgekehrt gilt: Frauen reagieren stark auf den Blickkontakt bei Männergesichtern. Wie im Film Casablanca: "Ich schau dir in die Augen, Kleines …" 

PH: Das war ein Zufallsbefund? 

Elger: Ein reiner Zufallsbefund. Das zeigt: Wenn junge Wissenschaftler die richtige Spiellust im Experiment haben, dann kommt auch etwas Originelles heraus. 

PH: Der Mandelkern, den Sie in diesem Experiment belauscht haben, ist ein wichtiges "Emotionszentrum" des Gehirns. Was hat er Ihnen über unser Gefühlsleben verraten? 

Elger: Bei diesem Thema steigen wir gerade ein. Über den Mandelkern weiß man beim Menschen noch sehr wenig. Mein Bonner Kollege, der Neurochirurg Johannes Schramm, hat jetzt zusammen mit einem Wissenschaftler aus Magdeburg mit einer Untersuchungsreihe begonnen. Sobald wir dieses System eines Tages besser verstehen, können wir schauen: Wie hängen die Hirnvorgänge dort mit psychiatrischen Auffälligkeiten der Patienten zusammen? Wo ist da der Defekt? Etwa 50 Prozent der Epilepsiepatienten, die wir operieren müssen, leiden unter behandlungsbedürftigen Depressionen. Wir können so zu neuen therapeutischen Ansätzen kommen. 

PH: Was haben die Epilepsiepatienten sonst noch von Ihren Forschungen zu erwarten? 

Elger: Zunächst einmal, dass etwas verhindert wird, was wir alle nicht wollen: nämlich dass durch die epilepsiechirurgischen Eingriffe Gedächtnisstörungen auftreten. Wir wissen, dass wir unsere Eingriffe noch gezielter und gewebeschonender ansetzen müssen. Wir entwickeln gerade Methoden dafür. Der zweite Punkt: Wir lernen immer besser zu verstehen, was chronische Epilepsie beim Menschen ist. Dadurch, dass wir das Hirngewebe untersuchen, wissen wir, wo die Unterschiede sind zwischen einer tierexperimentellen Epilepsie, an der neue Medikamente erst einmal ausgetestet werden, und der menschlichen Epilepsie. Wir haben gerade herausgefunden, dass die Resistenz von Epilepsiepatienten gegen bestimmte Medikamente darauf beruht, dass in manchen Zellen eine Veränderung eingetreten ist, die das betreffende Medikament unwirksam werden lässt. Wenn wir diese Dinge besser verstehen, können wir wahrscheinlich den Prozess, der zur Entwicklung der Pharmakoresistenz führt, in einer frühen Phase unterbinden. Und damit haben wir eine Chance, den Patienten medikamentös zu behandeln, statt ihn operieren zu müssen. 

PH: Mit bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Kernspintomografie können Sie dem Gehirn bei der Arbeit zusehen. Können Wissenschaftler eines Tages per Kernspin Gedanken lesen? 

Elger: Es gibt dazu bereits eine Untersuchung von James Haxby aus den USA. Er konnte in seiner Kernspinstudie tatsächlich sehen, was wir denken. Allerdings nur bei simplen Aufgaben. Er hat seinen Versuchspersonen verschiedene Bilder gezeigt: von einem Stuhl, einem Haus, einem Auto und so weiter. Und er hat dazu die Durchblutungsmuster aufgezeichnet. Nachher hat er den Spieß umgedreht und gefragt: Wenn ich ein bestimmtes Durchblutungsmuster im Kernspin sehe, kann ich daraus schließen, was der Patient gerade sieht? Er konnte es tatsächlich – aber natürlich nur, was diese sehr spezielle Aufgabe betraf. Ich denke, man kann die Menschen beruhigen: Normale Denkvorgänge sind so komplex, dass man sie mit diesen Methoden beim jetzigen Kenntnisstand nicht ablesen kann. Die Methoden, die wir haben, gestatten nur statistische Aussagen. 

PH: Man kann also nicht genau vorhersagen, was jeder Einzelne gerade denkt? 

Elger: Auch Haxby hat mit einer Gruppe von Versuchspersonen gearbeitet. Wenn er die Daten zusammenfasst, kann er sagen: Mit großer Wahrscheinlichkeit nimmt an einem ganz bestimmten Prozess diese oder jene Hirnregion teil. Mehr nicht. Es kann durchaus sein, dass eine Person ihr Hirn anders nutzt als die Mehrheit. Gerade in solchen Abweichungen von der Norm sehen wir übrigens Frühdiagnosemöglichkeiten von Krankheiten. 

PH: Welchen Krankheiten? 

Elger: Alzheimer zum Beispiel. Oder anderen Demenzerkrankungen. Hier haben wir eine dramatische Entwicklung: Nach allen Hochrechnungen läuft die Bundesrepublik darauf zu, im Jahr 2020 etwa zwei Millionen Demenzkranke versorgen zu müssen. Alle bisher bekannten Therapiemöglichkeiten der Alzheimerschen Erkrankung verzögern den Absturz vielleicht um ein, zwei Jahre. Aber sie können den Prozess nicht aufhalten. Das liegt daran, dass wir die Diagnose momentan erst stellen, wenn die Erkrankung so weit fortgeschritten ist, dass die Nervenzellen schon abgestorben sind. 

PH: Und es gäbe Möglichkeiten, sie früher zu stellen? 

Elger: Wir gehen davon aus, dass das Gehirn, bevor es degeneriert, zunächst kompensiert. Das heißt: Wenn irgendeine Leistung in einer Struktur nicht mehr ganz klappt, dann wird das Gehirn andere Wege beschreiten. Das merken Sie im Alltag noch gar nicht, weil Ihr Gehirn sehr redundant ist. Mit der funktionellen Kernspintomografie werden wir diese Kompensationsprozesse erfassen können. Wir werden sehen, dass zum Beispiel bei einer bestimmten Gedächtnisaufgabe nicht der Standardweg beschritten wird. Dann wissen wir, dass diese Leute in Gefahr sind, eine Demenz zu entwickeln, und wir können sie gezielt mit Medikamenten versorgen.

Christian E. Elger

Prof. Dr. Christian E. Elger, Jahrgang 1949, studierte Humanmedizin in Münster. Er ist seit 1987 Professor an der Universität Bonn und leitet seit 1990 die Universitätsklinik für Epileptologie. Vor zwei Jahren gründete er mit anderen Neurowissenschaftlern die Initiative "Jahrzehnt des menschlichen Gehirns" (www.menschliches-gehirn.de)

INTERVIEW: JUDITH RAUCH


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