Judith Rauch schreibt: Psychologie heute Oktober 2003

Ausdruck:

Wie wir Gesichter erkennen

Schon Aristoteles soll daran herumgerätselt haben: Wie erkennen wir eigentlich ein bekanntes Gesicht? An den Einzelheiten wie Nase, Mund und Stirnglatze? Oder am Gesamteindruck? Spielt vielleicht auch die Mimik eine Rolle? Wissenschaftler sind dabei, das Puzzle zusammenzusetzen

"Die unterhaltendste Fläche auf der Erde ist für uns die des menschlichen Gesichts", befand Ende des 18. Jahrhunderts der Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Experimentalphysik, Georg Christoph Lichtenberg. Diese Einschätzung teilen schon die kleinsten Babys: Sie interessieren sich vom ersten Tag an intensiv für Gesichter, wie Entwicklungspsychologen beobachtet haben.

Nicht ohne Grund. "Das menschliche Gesicht sendet eine verblüffende Vielfalt wichtiger sozialer Signale aus, die von anderen entdeckt und interpretiert werden können", schreiben die britischen Psychologen Vicki Bruce und Andy Young in einem aktuellen Standardwerk über Gesichterwahrnehmung. "Ein Gesicht sagt uns, ob sein Träger alt oder jung ist, männlich oder weiblich, traurig oder froh, ob er von uns angezogen oder abgestoßen ist, interessiert an dem, was wir zu sagen haben, oder ob er sich langweilt und am liebsten gehen möchte."

Große Teile unseres Gehirns sind mit der Wahrnehmung von Gesichtern befasst. Und zwar, wie sich gezeigt hat, in spezialisierter Weise: Es gibt Areale, die für das Erkennen einer Person wichtig sind, andere sind aktiv bei der Deutung von Gefühlen. Heute können Mediziner diese Areale mit bildgebenden Verfahren identifizieren, indem sie beispielsweise mittels Magnetresonanztomografie die Blutversorgung bestimmter Hirnregionen messen, während die Versuchsperson Wahrnehmungsaufgaben löst.

Auch Hirnverletzte mit eigenartigen Störungen liefern Hinweise auf diese Spezialisierungen. "Prosopagnostiker" nennt man Menschen, die angeborenermaßen oder nach einer Verletzung im rechten Schläfenlappen nicht (mehr) in der Lage sind, Familienmitglieder und Bekannte zu erkennen – ein Krankheitsbild, dessen Folgen man sich nicht drastisch genug ausmalen kann! Andere haben Probleme, sich neue, unbekannte Gesichter einzuprägen, während sie bekannte ohne Schwierigkeit identifizieren.

Betrifft ein Hirnschaden die Amygdala (den Mandelkern), kann der Betroffene Emotionen wie Furcht und Ärger nicht mehr von den Gesichtern seiner Nächsten ablesen. Auch andere Gefahrensignale werden falsch gedeutet: So blieb Yvette, eine Patientin, deren Amygdala durch eine Enzephalitis (Gehirnentzündung) geschädigt war, bei einem Raubüberfall völlig kaltblütig; der harmlose Streit zweier Darstellerinnen in einer TV-Seifenoper versetzte sie jedoch in Panik.

Heute ist die Landkarte der gesichterrelevanten Hirnzentren recht gut bekannt. Hirnforscher untersuchen sogar das Antwortverhalten einzelner Nervenzellen, um herauszufinden, auf welche Aspekte von Gesichtern sie spezialisiert sind und wie diese Informationen kodiert werden. Der Neurochirurg Itzhak Fried aus Los Angeles beispielsweise piekste Epilepsiepatienten feine Mikroelektroden in den mittleren Schläfenlappen, um ihre Anfallsbereitschaft zu messen. Als Nebenergebnis fand er vor drei Jahren heraus, "dass dieselben Gehirnzellen, die beim Anblick des Bildes der Mona Lisa feuern, dies auch tun, wenn man eine Person auffordert, sich das Bild der Mona Lisa im Geiste vorzustellen".

Dank der neuen Techniken boomt die Gesichterforschung. "Noch bis 1950 wurden weniger als 20 Artikel pro Jahrzehnt zum Thema Gesichtserkennung veröffentlicht", schreibt die Tübingerin Barbara Knappmeyer, die am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik an Gesichtern forscht. "In den 1970er Jahren waren es bereits über 600 und in den 1990ern über 1000 Beiträge." Die Fragestellungen sind dabei aber oft uralt.

Wie nehmen wir Gesichter eigentlich wahr – als Ganzes oder in Teilen? Ist es die Kombination aus blonden Haaren, feisten Bäckchen und breitem Grinsen, die uns an Dieter Bohlen denken lässt – oder eine ganzheitliche Bohlenhaftigkeit, die man nicht weiter analysieren kann? Das ist eine Frage, mit der sich (ohne den Mann zu kennen) schon Aristoteles herumgeschlagen haben soll. Heute geht ihr mit großer Akribie Gudrun Schwarzer nach. Die Psychologin leitet eine Arbeitsgruppe am Friedrich-Miescher-Laboratorium, in enger Nachbarschaft zum Tübinger Max-Planck-Institut. Schwarzer untersucht die Entwicklung der Objektwahrnehmung vom Säugling bis zum Erwachsenen – und sie benutzt dafür Gesichter als "Stimulus mit großer ökologischer Relevanz".

Ein typischer Versuchsaufbau sieht bei ihr etwa so aus: Ein acht Monate altes Baby (es sind Kinder aus dem Kreis Tübingen, die Schwarzers Team über Geburtsanzeigen ausfindig macht) nimmt, von Mutter oder Vater gehalten, auf einem Spezialsitz Platz. Es schaut in eine große, weiße Metallkugel hinein, die äußere Reize wegblendet. Auf einem Monitor ihm gegenüber erscheint ein Gesicht – zum Beispiel die Strichzeichnung einer Frau. Das Kind schaut sich das bis zu einer halben Minute lang neugierig an. Sobald es das Interesse verliert und wegschaut, wird wieder ein Gesicht eingeblendet. Ist es dieselbe Frau wie zuvor, guckt das Baby nur kurz hin – ihm wird schnell langweilig. Ist es ein neues Gesicht, etwa ein Mädchen, studiert es das lange und interessiert. "Die Zeitspanne der Aufmerksamkeit ist für uns das Maß dafür, ob das Baby einen Reiz als neu oder als gewohnt empfindet", erklärt Schwarzer. So kann sie ganz ohne Worte das Unterscheidungsvermögen von Säuglingen messen.

Was geschieht nun, wenn man die Reize mischt, hat sich Schwarzer gefragt. Nachdem sie das Versuchsbaby an das Kinder- und das Erwachsenengesicht gewöhnt hat, zeigt sie ihm in einem zweiten Schritt ein so genanntes "Switch-Gesicht", etwa ein Erwachsenengesicht mit einem Kindermund. Eigentlich kennt das Kind schon alle Einzelteile: Umriss, Augen und Nase der Frau ebenso wie den Mund des Mädchens. Würde es Gesichter rein analytisch verarbeiten, so argumentiert die Psychologin, müsste es das Switch-Gesicht kalt lassen. Doch die Kombination ist neu. Wird das Baby dies bemerken? "Das wäre ein Hinweis auf ganzheitliche oder holistische Verarbeitung."

Die Antwort ist erstaunlich komplex: Achtmonatige Babys reagieren auf die Mundveränderung. Wenn hingegen Augen, Nase oder die Gesichtskontur ausgetauscht werden, ist es ihnen egal. Die Entwicklungspsychologin hat das zunächst so interpretiert: "Vermutlich ist der Mund wichtiger als die anderen Gesichtselemente. Das Kind beachtet Münder, weil sie sich ständig bewegen – beim Lächeln, Lachen, Reden der Erwachsenen." In neueren Versuchen, in denen statt der Strichzeichnungen Fotos verwendet wurden, hat sie jedoch beobachtet, dass achtmonatige Babys auch die Augen schon in die Gesamtheit des Gesichts integrieren können, sechsmonatige jedoch noch nicht.

Diese Ergebnisse sind Teil einer Längsschnittstudie, mit der die Psychologin untersucht, wie sich das holistische Erkennen im ersten Lebensjahr allmählich aufbaut. Denn so viel weiß sie schon aus vielen eigenen Studien mit älteren Kindern und Erwachsenen: "Das analytische Erkennen ist primär, das holistische kommt später hinzu." Das Neugeborene betrachtet ein Gesicht zunächst Stück für Stück, erst mit fortschreitendem Alter integriert das Kind die Teile allmählich zu einem Ganzen. Lange hatten Entwicklungspsychologen und Gestalttheoretiker geglaubt, Kinder seien "ganzheitlich" orientiert. Pädagogen griffen den Faden auf – mit teilweise bizarren Resultaten. In den 60er und 70er Jahren quälte man Grundschüler im Deutschunterricht mit der Ganzwortmethode und im Rechnen mit Mengenlehre, statt ihnen schlicht die Buchstaben und Zahlen beizubringen. Heute wird allmählich klar: Kinder sind eher Analytiker und Erwachsene auch nur unvollkommene Holistiker. Je nach Aufgabenstellung hat Gudrun Schwarzer bei ihren Gesichterstudien auch unter den Erwachsenen 30 Prozent oder mehr Analytiker dabei.

"Offensichtlich führen verschiedene Strategien zum Erfolg", sagt sie, "und es hängt von den Bedingungen ab, welche gewählt wird." Steht ein Gesicht zum Beispiel auf dem Kopf, liefert die ganzheitliche Strategie zielführende, aber ungenaue Ergebnisse: Beim Versuch, die Teile wie gewohnt zu einem bekannten Antlitz zu integrieren, übersieht das Gehirn dann mitunter wesentliche Details, wie die berühmt gewordene Wahrnehmungstäuschung mit dem umgedrehten Margaret-Thatcher-Gesicht beweist (siehe Abbildung unten).

Fest steht: Mit zunehmendem Wissen und wachsender Erfahrung verändert sich unsere Wahrnehmung. Sechsjährige Kinder haben mit kopfstehenden Gesichtern noch nicht die gleichen Schwierigkeiten wie ältere Kinder und Erwachsene. Sechs Monate alte Babys, das zeigt eine britische Studie aus dem Jahr 2002, können sogar Affen am Gesicht unterscheiden, während bei größeren Kindern und Erwachsenen diese Fähigkeit fast vollkommen verloren geht. Stattdessen wächst, natürlich auch unter dem Einfluss des Spracherwerbs, die Kompetenz, alltagsrelevante Objekte sinnvollen Kategorien zuzuordnen: Vogel oder Flugzeug? Kind oder Erwachsener? Mann oder Frau?

Letzteres scheint nicht angeboren zu sein, sagen Wahrnehmungsforscher und Entwicklungspsychologen, sondern muss vom Kind erlernt werden. Wie Vicki Bruce und Andy Young zusammenfassend belegen, sind Erwachsene jedoch – zum Glück! – recht gut im korrekten Erkennen des Geschlechts ihres Gegenübers. Auch wenn auf einem Foto kulturelle Zeichen wie Frisur, Bart oder Make-up fehlen, liegen Versuchspersonen zu 95 Prozent richtig mit ihrer Einschätzung.

Dabei sind es relativ kleine Unterschiede, die ein Männer- von einem Frauengesicht unterscheiden: stärkere Nase und Brauen sowie ein breiteres Kinn beim Mann, dickere Backen sowie ein fleischigeres Kinnpolster bei der Frau. Weil auch ihre Augen größer erscheinen (dank der feineren Brauen), wirkten Frauengesichter kindlicher als Männergesichter, behaupten die Autoren.

Heute ist es möglich, die ohnehin fließenden Unterschiede noch weiter verfließen zu lassen: Dank moderner Bildverarbeitung lässt sich ein Frauengesicht Schritt für Schritt in ein Männergesicht verwandeln und umgekehrt – "Morphing" nennt man das. Am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik gelingt das neuerdings sogar in dreidimensionaler Form: Reale Köpfe werden mit einem Laser gescannt, allerdings ohne Haare (die Models tragen eine Badekappe). Die Daten werden gespeichert und daraus ein in alle Richtungen drehbarer, somit aus mehreren Perspektiven betrachtbarer (und manipulierbarer) Bildschirm-Doppelgänger konstruiert. Rund 200 solcher virtueller Köpfe, je zur Hälfte Frauen und Männer, hat Heinrich Bülthoff, einer der Institutsdirektoren, in einer Datenbank gesammelt.

Aus dieser Datenbank hat sich seine Frau Isabelle, eine Schweizer Biologin, bedient. Sechs Mann-Frau-Paare hat sie "gemorpht" und geprüft, wie Versuchspersonen die verschiedenen Zwischenstadien einschätzen (Abbildung unten): Gibt es da irgendwo einen gewaltigen Sprung zwischen Männlein und Weiblein? So etwa wie wir zwischen den Farben Rot und Orange oder den Lauten B und P an einer bestimmten Grenze scharf unterscheiden, auch wenn die physikalischen Unterschiede winzig sind? Man spricht in so einem Fall von "kategorischer Wahrnehmung". Für die Identität von Gesichtern (John oder Bob?) oder Gefühlsausdrücke (Angst oder Ärger?) ist eine solche kategorische Wahrnehmung schon bewiesen worden.

Isabelle Bülthoffs überraschender Befund: Das Geschlecht von Gesichtern wird ohne spezielles Training nicht kategorisch wahrgenommen! Zwar konnten sich ihre Versuchspersonen klar entscheiden, ob sie auf einem Einzelbild einen Mann oder eine Frau sehen. Wenn aber Bildpaare unterschieden werden sollten, die zwei oder drei Morphingschritte auseinander lagen, zeigte sich an keiner Stelle des Mann-Frau-Kontinuums der zu erwartende Sprung. "Das hatten wir nicht erwartet", kommentiert Bülthoff ihre Ergebnisse. "Aber offensichtlich ist das Geschlecht des Gesichts im Alltag nicht so wichtig." Andere Stimuli wie Haartracht, Kleidung, Figur, Bewegung und Stimme könnten für die Mann-Frau-Unterscheidung relevanter sein.

Mit derselben virtuellen Methode arbeitet in einem Nachbarbüro Barbara Knappmeyer. Die Biologin, die auch Mathematik studiert hat, will wissen, wie wichtig Gesichtsbewegungen für das Erkennen individueller Gesichter sind. Dazu hat sie die künstlichen Köpfe in ihrem Computer "animiert": Sie ließ reale Personen vor einer Videokamera eine Reihe von Gesichtsbewegungen vollführen (etwa Lächeln, Stirnrunzeln, Staunen, Kauen) und übertrug diese Grimassen dann mithilfe eines käuflichen Animationsprogramms auf virtuelle Gesichter (Abbildung unten). Auf diese Weise konnte sie beispielsweise ihr Modell "Stefan" mit der Mimik von "Lester" agieren lassen – oder einen Morph aus 50 Prozent Stefan und 50 Prozent Lester mal stefanisch und mal lesterianisch grimassieren lassen.

In einer Reihe von Wiedererkennungsexperimenten fand die Doktorandin heraus, dass neutrale Versuchspersonen sich ganz gewaltig durch die aufgepfropfte Mimik beeinflussen lassen. Stehen Form und Mimik eines Gesichts im Widerspruch, überwiegt zwar der Einfluss der Form. Aber die Mimik verschiebt die Kurven: Der 50-Prozent-Lester wird deutlich öfter für Lester gehalten, wenn er lesterianisch grinst und kaut, als wenn er dies auf die Art von Stefan tut. Selbst wenn die Gesichter auf den Kopf gestellt werden, bemerken die Versuchspersonen noch den mimischen Unterschied. "Gesichtsbewegungen sind also keine redundante Information für die Identität eines Gesichts", folgert Knappmeyer. Schauspieler und Kanzlerimitatoren scheinen das schon immer gewusst zu haben.

Doch wie verrechnet das Hirn die Informationen genau? Das weiß auch die Biomathematikerin nicht. "Die Forschungen der vergangenen 20 bis 30 Jahre haben zwar schon einige Fragen beantwortet, mit jeder beantworteten Frage aber mindestens zehn neue aufgeworfen", sagt Knappmeyer, die demnächst in New York weiterforschen wird. "Insofern ist das Rätsel der menschlichen Gesichtswahrnehmung noch längst nicht gelöst und bleibt weiterhin ein spannendes und faszinierendes Thema."

JUDITH RAUCH


Literatur:

Vicki Bruce, Andy Young: In the eye of the beholder. The science of face perception. Oxford University Press, Oxford 1988 (gebunden) bzw. 2000 (Paperback)


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Dossier Hirnforschung


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