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Friedensmission
im Kosovo
Im Süden des Kosovo, rund um die Stadt Prizren,
leisten deutsche Bundeswehr-Soldaten im Rahmen der KFOR-Mission ihren
Dienst. Einer von ihnen ist Marko Hensel aus Mecklenburg-Vorpommern.
Es ist 12.40
Uhr an einem Freitagmittag im Kosovo. Durch die engen Gassen der Altstadt
von Prizren patrouillieren drei Soldaten: Hauptgefreiter Marko Hensel,
Oberfähnrich Stefan Brych und Patrouillenführer, Oberfeldwebel Thomas
Pfannkuchen. Drei von 6000 deutschen Soldaten, die im Rahmen der
KFOR-Mission im Kosovo den Frieden sichern, indem sie Grenzen überwachen,
Minen räumen, zerstörte Häuser aufbauen oder, wie diese drei, für Ruhe
und Ordnung sorgen - in einer von Krieg, Vertreibung, ethnischen
Spannungen und Kriminalität geprägten Stadt.
Marko Hensel trägt einen oliv-braunen Kampfanzug, ein grünes Barett, das
ihn als Panzergrenadier ausweist, und eine dicke Schutzweste, die 14 Kilo
wiegt. Über der Schulter des 23-Jährigen hängt ein Gewehr, auf seinem Rücken
ein Funkgerät - beide wiegen noch mal je vier Kilo. Mit dem Funkgerät,
das wie ein Telefonhörer aussieht, gibt er Meldungen an die
Einsatzzentrale durch: von "Alpha", "Zulu", "Charlie", "Hotel"
ist die Rede. Damit codieren die Streifengänger sich selbst oder die
Objekte, die sie zu bewachen haben: Häuser, Kirchen, Büros, sogar ganze
Stadtviertel.
Eines der Objekte sticht uns sofort ins Auge. Ein Wohnhaus mit kleinem
Vorgarten, mit Stacheldraht gesichert. Die Treppe ist mit Sandsäcken
ummauert, an den Wänden Spuren einer Explosion. Hier wohnt eine serbische
Familie. Seit Monaten wird sie von deutschen Soldaten bewacht.
Im Wohnzimmer sitzen schon zwei von ihnen. Die Hausherrin, eine alte Frau,
bringt Kaffee und Tee. Patrouillenführer Pfannkuchen erkundigt sich, ob
alles in Ordnung ist. Für diese Routine-Checks braucht er keinen
Dolmetscher. Dann zieht sich die alte Dame wieder zurück. Nein, sie will
nicht schon wieder berichten, von den Drohungen, der Explosion oder darüber,
wie ihr Mann ums Leben kam.
Während wir bedrückt in dieser Festung sitzen, fängt Marko Hensel zu
erzählen an. Für ihn ist diese Familie zu einer Art zweiten Heimat im
Kosovo geworden. Er mag den Nusskuchen, den die alte Frau für die Beschützer
backt.
Markos eigentliche Heimat liegt über tausend Kilometer entfernt: das Städtchen
Demmin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wohnen seine Eltern, ist er zur
Schule gegangen und hat eine Banklehre absolviert. Ein halbes Jahr war er
arbeitslos, dann zog ihn die Bundeswehr ein. Im April 1999 war er noch
Wehrdienstleistender in Basepohl, unweit von Demmin. Doch Ende April
berief sein Kompaniechef eine Versammlung ein und stellte die Frage: "Wer
möchte freiwillig mit zu einem Einsatz bei den KFOR-Truppen im
Kosovo?" Wer wollte, wurde zu den Panzertruppen oder -grenadieren in
Brandenburg versetzt. Knapp 30 Soldaten aus Basepohl meldeten sich, 23 von
ihnen wurden nach verschiedenen Prüfungen für den Einsatz angenommen.
Auch Hensel.
Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht: Im Kosovo herrschte noch Krieg,
die Nato warf Bomben über serbischen Stellungen ab. Sogar ein Angriff mit
Bodentruppen wurde erwogen. Vier Wochen lang diskutierte Marko mit Eltern,
Kameraden und Bekannten, ob er das Risiko eingehen sollte. Dann stellte er
den Antrag auf Verlängerung seiner Wehrpflicht von zehn auf 19 Monate,
sechs davon im Kosovo. Warum? Er versprach sich ein Abenteuer, ein
Erlebnis, von dem er lange zehren würde. Und auch das Geld lockte: 180
Mark Sonderzuschlag pro Einsatz-Tag auf den kargen Wehrsold von 500 Mark
monatlich. Mit dieser Summe würde er nach dem Einsatz sein
Wirtschaftsstudium finanzieren können. Danach hieß es erst einmal:
warten. Endlich, am 16. November, ging es los. Er flog vom Militärflughafen
Köln-Wahnheide nach Skopje in Mazedonien, von dort ging es im Bus nach
Prizren im Süden des Kosovo.
Marko und seine Kameraden von der Einsatzbrigade Prizren bewegen sich
meist zu Fuß oder im Geländewagen, dem "Wolf".
16.00 Uhr. Für Marko und seine Kameraden ist eine "Radstreife"
angesagt - Abfahren weiter abgelegener Objekte mit dem "Wolf". Sie
besuchen drei Büros, in denen sich die Einwohner von Prizren für die
diesen Herbst geplanten Kommunalwahlen registrieren lassen können. Beamte
der UNMIK - United Nations Interim Administration Mission in Kosovo - und
lokale Angestellte schreiben die Namen auf und geben Ausweise aus. Die
KFOR-Soldaten fragen nach Zwischenfällen und führen Statistik: Wie viele
Wähler haben sich gemeldet? Welchen Volksgruppen gehören sie an? Wie es
scheint, trauen sich fast nur Albaner und Türken - die muslimische
Mehrheit - in die Büros. Christlich-orthodoxe Serben, die nach wie vor
Racheakte der so lange unterdrückten Albaner fürchten müssen, und
andere Minderheiten fehlen bisher in der Wählerstatistik. 16.40 Uhr. Wir
fahren zum Stadtrand, um ein Wohngebiet zu kontrollieren. Am Wegrand
winken Kinder. "Hallo Nato!", rufen sie. Wir erleben diese Szenen häufig.
Wann immer wir mit den Uniformierten unterwegs sind, zu Fuß oder im Jeep:
Kinder kommen aus allen Ecken angelaufen, wollen den Soldaten winken, sie
begrüßen, sie anfassen.
Auch in den beiden Roma-Wohnsiedlungen, die wir jetzt besuchen, hören wir
Kindergejohle. Die Nato hat Plüschtiere mitgebracht. Sie sind übrig
geblieben von einer Initiative, bei der Kosovo-Kinder ihre Spielzeugwaffen
gegen Stofftiere eintauschen konnten. Die Erwachsenen haben andere Sorgen.
Wie fast überall in Europa sind die "Zigeuner" schlecht angesehen,
manche sind bitterarm und leben in erbärmlichen Hütten. Von den Hilfsgütern,
die von über hundert humanitären Organisationen im Kosovo verteilt
werden, bekommen sie nicht immer ihren gerechten Anteil ab. Marko Hensel
hat im Winter Roma-Kinder barfuß durch den Schnee laufen sehen. Zwei Männer
reden auf Deutsch und Englisch auf uns ein. Das Problem: Am Straßenrand häuft
sich ein Müllberg. "Es wird immer schlimmer! Die Kinder holen sich
Infektionen!" Oberfeldwebel Pfannkuchen verspricht, bei der UNMIK
wegen eines Müllwagens nachzuhaken. Nachdem auch das letzte Baby sein
Kuscheltier im Arm hält, fahren wir ab. Alle winken: "Tschüss,
Nato!"
Die Stadt Prizren mit ihren vielen Moscheen, ihrer historischen Steinbrücke
und der über der Stadt thronenden Burg wird am Abend richtig schön.
Musik dringt aus den Cafés, an den Tischen im Freien sitzen Junge und
Alte, essen Eis, trinken Bier oder Cola. Doch um ein Uhr nachts ist
Schluss - Ausgangssperre für alle Bürger bis morgens um vier. Nur wer Bäcker
ist, Notarzt oder Krankenschwester, darf mit einer Ausnahmegenehmigung auf
der Straße sein. Diese Maßnahme hat die KFOR verhängt, um die
Kriminalität einzudämmen: Diebstähle, Brandanschläge, nächtliche
Schießereien sind seitdem seltener geworden. Seit Viertel vor eins ist
Pfannkuchen mit seinen Kameraden wieder auf Streife mit dem "Wolf".
Kurz nach Beginn der Ausgangssperre ist immer etwas los. Vergessliche,
Betrunkene, Provokateure sind unterwegs. Die KFOR-Truppe hat das Recht,
sie festzunehmen. Sie liefert sie bei der Militärpolizei ab, die die
Namen registriert, harmlosere Bürger nach Hause schickt und verdächtigere
Elemente bis zum Morgen in Gefängniszellen sperrt.
Heute nacht ist besonders viel Trubel zu erwarten: Roma und Albaner feiern
ihr Frühlingsfest. Und tatsächlich: Viertel nach eins bemerkt unsere
Streife den ersten verspäteten Fußgänger, einen älteren Mann.
Pfannkuchen kontrolliert die Papiere, stellt den Mann an eine Hauswand und
tastet ihn nach Waffen ab. Brych hält sein Gewehr einsatzbereit. Hensel
holt aus dem Wagen einen so genannten Kabelbinder, fesselt dem Ertappten
die Hände auf dem Rücken. Der stammelt Entschuldigungen: Er sei
Barbesitzer, habe noch späte Gäste gehabt. "Meine Frau wohnt gleich dort
drüben." Und: "Es ist doch das erste Mal!" Auch ohne
Dolmetscher klappt die Verständigung, da fast alle Kosovo-Albaner etwas
Deutsch sprechen und verstehen.
Dann geht es Schlag auf Schlag. Zwei Taxis, einer der Fahrer hat keine
Ausnahmegenehmigung. Noch ein Fußgänger. Und noch einer. Der torkelt ein
wenig, riecht nach Alkohol und behauptet, er sei Bäcker und auf dem Weg
zur Arbeit. Eine Genehmigung hat er nicht dabei. Wir staunen, in welcher
Geschwindigkeit drei Soldaten vier Männer festnehmen und bewachen können.
Dann warten alle auf den Sammeltransporter der KFOR, der bei Bedarf über
Funk angefordert wird und die Delinquenten abholt. Auf der Ladefläche des
Zweitonners sitzen schon vier arme Sünder, unsere vier steigen zu.
Gegen zwei Uhr wird es wirklich still in Prizren. Gegen vier treffen wir
unseren Betrunkenen von vorhin wieder. Er steht im Eingang einer Bäckerei,
ist immer noch blau und winkt uns fröhlich zu. Hensel, Brych und
Pfannkuchen können jetzt ein wenig schlafen, auf den ungemütlichen
Pritschen in der Einsatzzentrale der Stadt, einem ehemaligen Kasino der
jugoslawischen Armee. Erst um zehn Uhr haben sie wieder Streifendienst -
zu Fuß in der City.
Wir Journalistinnen nutzen den Tag zu einer Fahrt über Land zusammen mit
zwei Begleitern vom Presse-Informationszentrum der Bundeswehr in Prizren.
Was wir bisher gesehen haben - die Stadt Prizren mit ihren geschäftigen
Einwohnern, ihren wohlgefüllten Läden und nur wenigen zerstörten Häusern
-, das kann nicht die ganze Geschichte sein, ahnen wir. Wo sind die Spuren
des Krieges und des Völkerhasses, die den aufwändigen Nato-Einsatz
rechtfertigen?
Wir finden sie. Ein paar Kilometer außerhalb von Prizren ein frisch
angelegter Friedhof. Dort sind ehemalige Kämpfer der UÇK beerdigt, der
inoffiziellen Armee der Kosovo-Albaner, die das Land gegen Milosevics
Armee verteidigt hat. Die Fotos auf den Grabsteinen zeigen junge Männer
zwischen 20 und 35 Jahren. Ein Bus hält, eine Besuchergruppe steigt aus.
Die Stätte scheint zum Wallfahrtsort zu werden. Hoch in den Bergen ein
ehemaliges serbisches Dorf. Hier steht kein Haus, lebt kein Mensch mehr.
Nur brandgeschwärzte Ruinen, zwischen denen Schafe grasen. Was von Wert
war, haben Plünderer abtransportiert.
Auch der Friedhof wurde nicht verschont: Die Grabsteine sind umgestürzt.
Hier ruht ein Mann namens Stanimir Bekic (1926 bis 1992). Für seine Frau,
ebenfalls 1926 geboren, war das Nachbargrab vorgesehen. Doch sie wird wohl
niemals hier begraben werden. Ob sie wohl noch lebt - und wo? Die
ehemalige Kirche bietet einen traurigen Anblick. Ausgeräubert,
ausgebrannt. Zu einem Wachsklumpen zerschmolzene Kerzen am Boden. An den
Außenwänden farbtriefende Parolen der UÇK. Wir beginnen zu begreifen,
warum die KFOR die Gotteshäuser in der Stadt und ihre Popen schützt.
Auf der anderen Seite des steilen Tals ist ein albanisches Dorf zu sehen,
intakt. Dort will niemand gesehen oder gehört haben, was mit den
serbischen Nachbarn geschehen ist, berichten die Presseleute der
Bundeswehr. In einem anderen Dorf ein Friedhof mit 75 Grabstätten. Die
Namen albanisch, die Toten zwischen zwei und 70 Jahren alt. Es gibt nur
zwei Sterbedaten auf den Grabsteinen: der 25. und der 26. März 1999. An
diesen Tagen haben hier serbische Sondereinheiten ein Massaker verübt.
Frauen und Kinder kommen hierher, um ihre Verwandten zu beweinen.
Aufatmen, zwischendurch gibt es auch andere Bilder zu sehen: Im Dorf
Bilusa haben Väter die zerstörte Schule ihrer Kinder neu gebaut. Der
Rohbau steht. Das Material haben Bundeswehrsoldaten geliefert; es wurde
aus Spendengeldern finanziert. Obwohl Samstag ist, stehen die Männer auf
Leitern im Inneren und verputzen die Decken.
Beim Mittagessen im Hauptquartier in Prizren treffen wir auf eine illustre
Gruppe von Offizieren und Diplomaten. General Juan Ortuño aus Spanien,
der Kommandant der KFOR-Truppen, ist aus der Hauptstadt Pristina gekommen,
um seinen Antrittsbesuch beim deutschen Kontingent zu machen. Thema: Wann
wird die Zeit reif sein für die Rückkehr der 200 000 serbischen Flüchtlinge,
die noch außerhalb des Kosovo leben, und wie können sie wieder
integriert werden?
Während die Generäle speisen, ist Marko Hensel wieder auf Fußstreife.
Es gibt Probleme mit einem Falschparker, und Marko, der gut Englisch
spricht, hilft bei der Verständigung mit der UNMIK-Polizei. Auch das gehört
zu den Aufgaben eines deutschen Soldaten im Kosovo. Nachmittags liest er
ein Stück in einem Buch - die Zeit zwischen den Schichten will gefüllt
werden. "Ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelesen wie hier",
sagt Marko. Alternative zum Lesen ist das Briefeschreiben. "Keiner meiner
Briefe nach Hause ist kürzer als vier Seiten." Die Eltern und
etliche Freunde schreiben zurück und bombardieren ihn mit Fragen: Ist es
wirklich so gefährlich im Kosovo, wie man es bei uns im Fernsehen sieht?
Meist kann Marko sie beruhigen.
Zurzeit ist sein "Zuhause" ein Feldlager im Norden von Prizren, in
dem rund 1000 deutsche Soldaten auf einem ehemaligen Militärgelände der
jugoslawischen Armee in Häusern, Zelten und Containern leben. Hensel hat
es relativ gut getroffen: Er ist in einem Haus untergebracht. Allerdings
teilt er seine Stube, zu der ein winziges Bad gehört, mit fünf
Kameraden. Entsprechend eng ist es, alles voll gestellt mit Rucksäcken
und Taschen. An Wäscheleinen, die quer durchs Zimmer gespannt sind, hängen
ein paar Kleidungsstücke.
Die zweistöckigen Pritschen sind der einzige "private" Raum; hier
haben die Soldaten Fotos der Verwandten und - so weit vorhanden - der
Frauen und Freundinnen an die Wand gepinnt. Allerdings auch Fotos von
Frauen, die ihnen völlig unbekannt sind und die sich splitternackt den
Blicken darbieten: Pin-ups aus Sex-Zeitschriften als Ersatz für das, was
die jungen Männer hier sechs Monate entbehren müssen.
Um zwölf Uhr wird Hensel zusammen mit 20 Kameraden, die mit ihm Dienst
hatten, im Flur antreten müssen: Strammstehen, um Termine und
Informationen des Zugführers entgegenzunehmen. Die erfreulichsten
Informationen betreffen den bevorstehenden Rückflug nach Deutschland - in
14 Tagen ist es so weit! Dann werden die Panzergrenadiere des dritten
KFOR- Kontingents durch ihre Nachfolger vom vierten Kontingent abgelöst.
Und schon übermorgen ist "Medal Parade": Marko Hensel und seine
Kameraden werden dann bei einem Festakt die KFOR-Einsatzmedaille der
Bundeswehr und die blau-weiße Nato-Medaille erhalten. Darauf freut er
sich schon: "Das ist etwas, worauf ich stolz sein kann!" Am Vortag
haben wir eine solche Parade beobachtet. Rund 200 Soldaten eines
Logistik-Regiments und ein kleines Fernmelder-Bataillon waren auf einem
ehemaligen Bauhof zum Medaillen-Empfang angetreten. Eine bewegende Feier
mit Reden, Fahnen und Nationalhymne.
Für Marko Hensel waren die
sechs Monate "eigentlich nicht sehr gefährlich", wie er sagt. Keine
Leiche gefunden, nicht beschossen oder bedroht worden, auch selbst keinen
Gebrauch von der Waffe gemacht. "Fast zu wenig Abenteuer", will ihm
scheinen. Statt Mut war eher Disziplin gefragt, das Aushalten der immer
gleichen Dienstroutine. "Gelohnt hat es sich trotzdem", sagt er. "Weil
wir hier das Gesetz vertreten. Und das ist wichtig für die Zukunft der
Kinder." Eine Menge Fotos hat er auch gemacht, die er den
Daheimgebliebenen zeigen kann.
Am Montag, seinem zweiten freien Tag, bevor wieder eine 48-Stunden-Schicht
beginnt, wird Marko Hensel und 20 seiner Kameraden noch einmal etwas
Besonderes geboten: eine Fahrt mit dem Zweitonner zu einem Waffenlager in
Dinovce. Hier sammelt die Bundeswehr in einer Halle, die durch
Stacheldrahtrollen und Panzer gut gesichert ist, die illegalen Waffen, die
sie bei Kontrollen in kosovarischen Häusern und Autos erbeutet hat. Über
den Hof schlurft ein dunkelhaariger Albaner mit traurigem Gesicht. Er trägt
vier Flinten über der Schulter. Seine grüne Uniform mit dem Abzeichen
TMK weist ihn als Mitglied der "Kosovo-Schutz-Truppe" aus, der
legalen Nachfolge-Organisation der UÇK. "Die KFOR bildet diese Leute zu
einer Art Technischem Hilfswerk aus, für Katastrophenschutz, Feuerwehr
und so weiter", erklärt uns Leutnant Pierre Steuer,
Verbindungsoffizier der Bundeswehr zur TMK. "Ihre Waffen haben sie
abliefern müssen; doch ein paar von ihnen haben die Erlaubnis, sie hier
unter unserer Aufsicht zu pflegen." Tatsächlich: In einem Schuppen
nebenan sitzt noch ein anderer ehemaliger UÇK-Mann beim Waffenputzen.
Vielleicht werden sie ihre Jagdflinten sogar eines Tages wiederbekommen -
ganz legal, mit Waffenschein.
Der Ausflug geht weiter nach Suva Reka ins internationale Camp "Casablanca".
Hier tun Deutsche, Schweizer, Österreicher, Slowaken und Bulgaren
gemeinsam Dienst. Marko Hensel und seine Kameraden können beobachten,
dass ein höherer Frauenanteil in den europäischen Nachbar-Armeen
durchaus auch Romantik mit sich bringt: Ein österreichischer Flieger
macht einer Schweizer Panzerfahrerin galant den Hof.
Oberstleutnant Klaus Geier, der Chef des Bundeswehr-Pressestabs in
Prizren, plagen derweil schwarze Gedanken. Auf dem Markt in Prizren ist an
diesem Morgen ein Mann erschossen worden, mit sechs Kugeln aus dem
Hinterhalt. Nicht irgendeiner, sondern der Umweltbeauftragte der Stadt,
Ekrem Rexha, ein angesehener Mann. Zu UÇK-Zeiten war er unter dem Namen "Kommandant
Drini" bekannt. Hensels diensthabende Kameraden haben überall in der
Stadt Kontrollpunkte errichtet, um nach den Mördern und ihrem Auto zu
fahnden. Auch Brigadegeneral Roland Kather, mit dem wir am Abend sprechen,
ist von dem Mordanschlag betroffen. Er hat oft mit "Drini" als
Vertreter der Stadtverwaltung zusammengearbeitet. Der Anschlag zeige, dass
die Situation in Prizren "zwar relativ ruhig ist, aber noch nicht
stabil". Ein fragiler Frieden … "Wird die Nato bleiben, bis der
Frieden sicher ist?", fragen wir ihn. Kather: "Wir werden erst
abziehen, wenn wir Erfolg hatten und das Kosovo stabil und demokratisch
ist."
Nachdenklich verlassen wir das Hauptquartier. Selbst hier auf dem Hof
wimmeln Kinder herum: "Hallo!" Wir verstehen allmählich, warum diese
Kinder so dankbar sind. Die Nato ist zu ihnen gekommen, um sie zu beschützen.
Die Soldaten haben ihnen nicht nur Stofftiere mitgebracht, sondern ihnen
auch ein Fenster zu einer besseren Welt geöffnet, eine Vision von
Frieden, Wohlstand und Demokratie. Wir hoffen inständig, dass General
Kather sein Versprechen halten kann: "Abzug erst nach dem Erfolg."
Wann es so weit sein wird? In fünf Jahren? In zehn? Marko Hensel wird
dann vielleicht in einer Bank irgendwo in Deutschland in der Zeitung vom
Abzug der Nato-Truppen aus dem Kosovo lesen. Er wird die Börsennachrichten
beiseite legen und die Blumen werfenden Kinder des Kosovo vor Augen sehen.
Vielleicht wird er in alten Fotos kramen und sie seinen eigenen Kindern
zeigen: "Ich war dabei."
JUDITH RAUCH
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