Judith Rauch schreibt: P.M. Perspektive 4/2005 (November 2005)

Deutsche:

Sind wir alle Ex-Germanen?

Zwischen den ersten germanischen Stämmen und dem heutigen "Germany" liegen mehr als zweitausend Jahre. Gibt es da überhaupt noch Gemeinsamkeiten? Eine Spurensuche. 

Und das sollen unsere Vorfahren gewesen sein? Es ist kaum zu glauben, was der Römer Publius Cornelius Tacitus im Jahr 98 n. Chr. über die Germanen geschrieben hat: "Für mühselige Arbeit haben sie nicht dieselbe Ausdauer, am allerwenigsten ertragen sie Durst und Hitze." Ausgerechnet die Deutschen, denen man Fleiß und Durchhaltevermögen nachsagt, hatten also schlappe Ahnen?

Ebenso erstaunlich sind die äußeren Merkmale, mit denen Tacitus die Germanen beschreibt: "die Augen trotzig und blau, die Haare blond, die Körper hochgewachsen und nur zum Angriff stark". Kann das sein – wenn heute nicht einmal mehr in Norddeutschland die Mehrzahl der Menschen blond ist, sondern braune Haare hat?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die heutigen Deutschen trotz germanischer Wurzeln nach zwei Jahrtausenden mit ihren Vorfahren einfach nicht mehr viel gemeinsam, oder Tacitus schrieb damals nicht die Wahrheit. Für Wissenschaftler ist der Fall klar: Der Römer hat nicht so genau hingeschaut. Stattdessen folgte er dem Klischee seiner Zeit, das alle Völker, die als "barbarisch" und primitiv eingestuft wurden, pauschal als blond und blauäugig kennzeichnete. Diese Merkmale benutzten Griechen und Römer der Antike, um Fremde von den "durchweg schwarzhaarigen und dunkeläugigen mediterranen Kulturvölkern" abzugrenzen, meint der Frankfurter Germanistikprofessor Klaus von See.

Tacitus beschrieb die Germanen weiter als "Ureinwohner". Er hielt sie "keineswegs für Mischlinge infolge von Zuwanderung und gastlicher Aufnahme fremder Völker". Auch das ist falsch, denn die angeblich so blonden und blauäugigen Menschen waren keineswegs die ersten Bewohner deutschen Bodens. Ihnen gingen unter anderem voraus: der Homo heidelbergensis (vor 600.000 Jahren) der Neandertaler (vor 40.000 Jahren) und Bauern der Jungsteinzeit (vor 8.000 Jahren).

Nicht einmal um 500 v. Chr., als im heutigen Baden-Württemberg die Kelten ihre ersten Siedlungen errichteten, ist irgendwo ein Germane in Sicht. "Kelten" heißt wörtlich "die Tapferen", und so nennen sie sich selbst; in Frankreich werden sie Gallier genannt.

Die kriegslüsternen Eroberer dringen im Westen bis nach England und Irland vor, wo heute noch ein Rest ihrer Sprache, Gälisch, gesprochen wird. Im Südwesten erreichen sie die spanische Atlantikküste, im Süden Oberitalien, wo sie 386 v. Chr. Rom belagern. Im Osten ziehen keltische Heere durch Österreich, Ungarn und den Balkan bis nach Nordgriechenland. Sogar nach Kleinasien dringen sie vor: Die Einwanderer aus dem Schwabenland werden dort als Galater bekannt.

Die Kelten sind hervorragende Handwerker, kreative Künstler, tüchtige Kaufleute, tiefreligiöse Menschen und Analphabeten. Wie viel von ihnen lebt noch in den heutigen Deutschen? Eine ganze Menge, schreibt der Autor Dr. Reinhard Schmoeckel in seinem Buch "Die Indoeuropäer": "Viele Millionen Menschen in Deutschland oder Österreich sind vermutlich ebenso blutsmäßige und kulturelle Nachfahren keltischer Ahnen wie ein Bauer im französischen Rhonetal oder ein irischer Fischer."

Und die Germanen? Dieser Name taucht erst um 80 v. Chr. auf, als ihn der griechische Philosoph Poseidonios (ca. 135–51 v. Chr.) zum ersten Mal erwähnt: Die Germanen essen zur Mittagszeit gebratenes Fleisch und trinken Milch dazu, schreibt er. Doch den meisten Griechen und Römern bleibt die Existenz dieser nordischen Nachbarn dennoch verborgen. Erst als auch Julius Cäsar 51 v. Chr. in seinem Buch "Über den gallischen Krieg" (De bello gallico) auf Germanen hinweist, wird deutlich, dass es sich bei ihnen nicht um einen Teil der Kelten handelt, sondern um eine eigene Völkerfamilie. Sie selbst nimmt sich aber gar nicht als solche wahr: Nie würden die einzelnen Stämme wie Kimbern oder Teutonen auf die Idee kommen, sich als "germanisch" zu bezeichnen.

Zu übersehen sind die Germanen aber nicht mehr. "Dort oben im Norden, jenseits der Alpenpässe, sei ein Volk auf der Wanderschaft, so riesig an Zahl, wie man es noch nie gesehen", flüstert man sich in Rom zu, schreibt der Autor Siegfried Fischer-Fabian ("Die ersten Deutschen"). "Eine Million Menschen, zusammengepfercht auf Planwagen, vor die Ochsen gespannt sind, mit Kind und Hund, Frauen und Vieh" seien unterwegs und "fräßen das Land kahl wie die Heuschrecken".

Solche Schilderungen lösen Ängste aus und schüren die Furcht vor den Fremden. Zumal obendrein verlautet, dass die Kimbern und Teutonen angeblich von einem 300000 Mann starken Heer geführt werden – "furchterregende Gestalten, wahre Hünen", gegen die niemand eine Chance habe.

Die Kimbern kommen von der Halbinsel Jütland (Dänemark), die Teutonen aus dem heutigen Schleswig-Holstein. Vermutlich sind es Sturmfluten gewesen, die die beiden Völker vertrieben haben. Mal getrennt, mal gemeinsam irren sie nun durch Mitteleuropa. In der Steiermark stoßen sie 113 v. Chr. erstmals mit römischen Truppen zusammen. Elf Jahre später werden die Teutonen in Südfrankreich und bald darauf die Kimbern in Oberitalien von der neuen Großmacht Rom vernichtend geschlagen. Nur in ihrer Heimat im Norden sind einige Angehörige dieser Stämme zurückgeblieben.

Wer gehört außerdem zu den Germanen? Für die weitere Entwicklung auf deutschem Boden spielen viele kleine und große germanische Völker eine Rolle. Die wichtigsten sind:

Die Friesen. Dieser zuerst im Jahr 12 v. Chr. erwähnte westgermanische Stamm lebt an der Nordseeküste und ist bekannt für seine groß angelegte Viehzucht. Friesische Händler ziehen bis nach Rom.

Die Sueben. Äußerlich auffallend ist ihre Haartracht: der seitlich am Kopf angebrachte "Suebenknoten". Ursprünglich sind sie in Norddeutschland zu Hause, ein großer Teil im heutigen Brandenburg. Die Trockenheit ihrer Böden zwingt sie zum Auswandern. Im Jahr 70 v. Chr. fallen sie unter Führung ihres Feldherrn Ariovist in Gallien ein, aber Julius Cäsar treibt sie nach zwölf Jahren über den Rhein zurück. Später gehen die Sueben, von denen die heutigen Schwaben ihren Namen haben, im Großvolk der Alemannen auf.

Die Cherusker. Sie stammen aus dem Gebiet zwischen Weser und Harz. Nach Ansicht einiger Historiker sind sie aber keine echten Germanen, sondern leben neben den Kelten als eigene Gruppe mit eigener Sprache ("illyrisch"). Durch ständige Kämpfe verschwindet ihr Name im zweiten Jahrhundert, später gehen sie im Stamm der Sachsen auf.

Die Chatten. Sie sind am Mittelrhein zu Hause und gelten als Vorfahren der heutigen Hessen. In den Jahren 69 und 70 n. Chr. lassen sie sich in eine Rebellion gegen die Römer verwickeln, den so genannten Bataver-Aufstand, angeführt von den niederländischen Batavern. Auch in späteren Jahren stehen die Chatten dem Expansionsdrang der Römer auf deutschem Boden mehr als einmal im Weg.

Dennoch gelingt es römischen Truppen, nach Norden bis an den Rhein vorzudringen. Schon unter Augustus, dem Nachfolger Cäsars, errichten sie hier zwei germanische Provinzen: Unter- und Obergermanien. Und eine weitere Provinz mit dem Namen Raetien dehnen sie weit über die Donau bis ins heutige Baden-Württemberg und Bayern aus. Die neu eroberten Gebiete sichern sie durch den Limes, eine 550 Kilometer lange Grenze mit Mauern, Zäunen und Wachtürmen.

Weil aber die neuen Herren ihre eroberten Gebiete nicht allein mit eigenen Truppen bewachen und verteidigen können, beschäftigen sie auch germanische und keltische Krieger. Die können das römische Bürgerrecht erwerben und dürfen Römerinnen jeglicher Herkunft heiraten. Umgekehrt ist es Veteranen des römischen Heeres erlaubt, sich in den neuen Gebieten des römischen Reichs anzusiedeln. Nicht alle von ihnen stammen aus Italien, auch Ungarn und Nordafrikaner sind darunter. So entsteht auf deutschem Boden ein buntes Völkergemisch – in dem dunkle Haare und braune Augen immer häufiger auftauchen.

Doch ebenso wie schon die Macht der Kelten geht auch die der Römer einmal zu Ende. Schuld daran sind nicht zuletzt drei große Germanenvölker, die sich im zweiten und dritten Jahrhundert in deutschen Landen herausbilden: Alemannen, Sachsen und Franken.

Die Alemannen stammen ursprünglich aus der Gegend zwischen dem heutigen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg. Vom römischen Kaiser Caracalla werden sie um 215 n. Chr. als "volkreicher Stamm, der vorzüglich zu Pferde kämpft", gelobt. Ihr Name bedeutet "allgemeine Männer", was nichts anderes heißt, als dass es sich um eine bunte Truppe handelt: "Die Alemannen sind zusammengelaufene Menschen und Mischlinge", schreibt der griechische Schriftsteller Agathias.

Zusammengewürfelt, aber nicht chaotisch: Es gelingt den Alemannen nach vielen Kämpfen, die Römer über den Limes zurückzudrängen, bis dieser im Jahr 260 von den Besatzern aufgegeben wird. Die Alemannen erweisen sich als langlebiges Volk, aus dem später die Württemberger (Schwaben), Badener und Deutsch-Schweizer hervorgehen.

Die Sachsen sammeln sich an der Elbe. Rund fünfzig Jahre nach dem Tod des römischen Geschichtsschreibers Tacitus (ca. 55–116), der noch keine Sachsen kannte, zeichnet der griechische Gelehrte Ptolemäus auf einer Landkarte das Volk der "Saxones" ein – in einem Gebiet, das den heutigen Regionen Holstein, Schleswig sowie dem westlichen und nördlichen Mecklenburg entspricht.

Vermutlich aus weltanschaulichen Gründen haben sich die Sachsen von ihren Ursprungsstämmen abgesondert: Sie sind Krieger, die ein Hiebmesser (Sax) bei sich tragen und den Kriegsgott Saxnot verherrlichen, an Stelle der in dieser Gegend verehrten Fruchtbarkeitsgöttin Nerthus. Die Sachsen bleiben ihrem Kriegsgott lange treu. Als Karl der Große seinen langjährigen Widersacher, den Sachsen-Herzog Widukind, 785 endlich zum Christentum bekehrt, muss dieser folgenden Eid ablegen: "Ich schwöre allen teuflischen Werken und Worten ab, Donar und Wotan und Saxnot und allen Unholden, die ihre Genossen sind."

Die Sachsen sind zu dieser Zeit ein mächtiges Volk und beherrschen weite Teile Niederdeutschlands. Die Niedersachsen gehen auf sie zurück, aber auch die Westfalen, wie sich das am weitesten nach Westen vorgestoßene Militärbündnis der Sachsen nennt. Einige Mitglieder dieses großen Stammes sind allerdings zwischen dem vierten und fünften Jahrhundert ausgewandert; zusammen mit den schleswig-holsteinischen Angeln zogen sie nach England ("Angelland"), wo sie zu "Angelsachsen" wurden.

Und die heutigen Sachsen? Sie sind nicht sächsischer Herkunft, sondern eigentlich Thüringer. Ihren Namen bekamen sie erst, als im Jahr 1423 der Markgraf von Meißen den Titel "Herzog von Sachsen" annahm.

Die Franken fallen zum ersten Mal um 250 n. Chr. auf, als sie vom Niederrhein aus Plünderzüge nach Gallien unternehmen, wo die römische Macht zu bröckeln anfängt. Ihr selbst gewählter Name bedeutet "die Freien" oder "Kühnen" und ist vermutlich wiederum ein Sammelname für etliche kleinere Stämme. Ihre große Stunde schlägt erst im frühen Mittelalter: Um 500 herum dehnt dieses Germanenvolk seinen Siedlungsraum immer weiter auf das Gebiet des heutigen Frankreich aus, des "Reichs der Franken".

Offenbar finden die fränkischen Germanen an ihren Eroberungen Geschmack: Anschließend besiegen sie die Alemannen im Südwesten, dann die Thüringer im Osten. Schließlich ergeben sich auch noch im Norden die Sachsen und im Süden die Bayern der fränkischen Übermacht.

Die Bayern oder Bajuwaren sind zu dieser Zeit, im Jahr 788, ebenfalls noch ein junges Volk: ein Konglomerat aus kleinen germanischen Stämmen, Keltenvölkern und im Norden hängen gebliebenen Römern (den so genannten Welschen). Ob der Name "Bayern" auch etwas mit den "Böhmen" zu tun hat, ist umstritten.

Was aus dem erfolgreichen Feldzug der Franken entsteht, ist eine neue Großmacht: das Reich Karls des Großen. Außer Frankreich, Deutschland und Österreich umfasst es auch Teile Spaniens und Norditaliens. Doch schon von Karls Söhnen wird es aufgeteilt und verliert seine imposante Größe.

Erst ab 919 entsteht unter dem sächsischen Kaiser Heinrich I. ein "deutsches" Reich. Woher kommt dieser Name, der nun zum ersten Mal auftaucht, obwohl es zu dieser Zeit noch gar kein "Deutschland" gibt?

Der Begriff geht nicht auf einen Stamm zurück. Die fränkisch-germanische Bevölkerung benutzt das Wort "theodisk" (deutsch, volkssprachlich) als Abgrenzung zum Lateinischen oder zu anderen romanischen Sprachen. Als nun Heinrich I. im Jahr 919 zum König gekrönt wird, soll dieser feierliche Akt in einem Dokument festgehalten werden – in lateinischer Sprache. Die Verfasser erinnern sich daran, dass in der Antike einmal ein germanischer Stamm existierte – die Teutonen –, und geben diesen Namen nun dem Volk des Königs. So regiert Heinrich fortan ein "regnum teutonicorum", wie es in dem Dokument heißt, ein "Reich der Deutschen". (Noch heute gibt es im Englischen für die Germanen den Begriff "Teutons".)

Neben dem heutigen Westdeutschland gehören auch die Niederlande, Belgien, das Elsass, Lothringen sowie Teile der Schweiz und Österreichs zu diesem deutschen Reich. Seine Völker – Friesen und Sachsen, Thüringer und Franken, Bayern und Schwaben, Nieder- und Oberlothringer – bilden vor allem eine Sprachgemeinschaft: Sie sprechen Deutsch, die Sprache der Germanen. Eine einheitliche genetische Gruppe sind sie nicht.

Keiner hat das besser auf den Punkt gebracht als Carl Zuckmayer in seinem Drama "Des Teufels General", das während der Herrschaftszeit Adolf Hitlers spielt. Darin sorgt sich der vom Rhein stammende Offizier Hartmann, er habe womöglich eine Urgroßmutter ausländischer Herkunft und dürfe deshalb wegen der Rassengesetze der Nazis kein "deutsches Mädel" heiraten. Doch sein Vorgesetzter, der schnoddrige General Harras, tröstet ihn, indem er aufzählt, wer alles zu Hartmanns Ahnen gehören könnte:

"Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ‘ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flößer, ein wandernder Müllersbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant." Und, so der General: "Das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt."

JUDITH RAUCH



Warum heißen die Germanen Germanen?


Das althochdeutsche Wort "Ger", noch heute in Namen wie Gerhard und Gernot enthalten, bedeutet ursprünglich "Speer". Ger-Mannen sind also Männer mit Speeren. Das klingt plausibel, lässt sich einfach merken – und ist vermutlich falsch. Denn nichts deutet darauf hin, dass es den Begriff "Ger", der erst ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. auftaucht, schon 800 Jahre vorher gab, als die Römer nachweisbar zum ersten Mal von Germanen sprachen. 

Der Germanistikprofessor Klaus von See aus Frankfurt am Main sagt, dass der Name Germanen aus dem Lateinischen kommt: Aus dem Wortstamm "germen" (Keim, Spross, Stamm) habe sich der Begriff "germani" gebildet, was so viel bedeutet wie die Verschwisterten, die leiblichen Verwandten oder auch die Leibhaftigen, Eigentlichen, Echten. Möglicherweise war es nur ein kleiner Volksstamm, der ursprünglich so hieß. Sein Name könnte irgendwann auf die gesamte Völkerfamilie im Norden des römischen Einflussgebietes ausgedehnt worden sein.


Mehr zum Thema: Deutschlandforschung - Ethnologen beobachten uns

Home | Kontakt | Datenschutzerklärung | Impressum

 

Fenster schließen